Zukunftsfähige Geheimdienste können mehr nutzen, als schaden.
Allein schon ein einziges aktuelles Exemplar 12/2023 vom SPIEGEL veranschaulicht die Breite der Optionen. Artikel als PDF
Philipp Sonntag
Am 20. März 2023
Schon seit 1966, damals als Student an der Hochschule für Politik München (HfP), frage ich mich – und so manche Genervte – ob Geheimdienste überhaupt mehr Nutzen erbringen, als Schaden anrichten. Nun weiß „sogar ich“, es gibt unverzichtbare Bereiche, wie Aktionen für Sicherheit von erkannt gefährdeten Personen, wie den Schutz von Kritischen Infrastrukturen. Es gibt wertvolle Aktionen wie gegen Wirtschaftsspionage, so durch ein fundiertes, pragmatisch mit 27 Seiten kurzgefasstes Heft für Unternehmen, aus dem Jahr 2008, das mir auf einer Ausstellung 2022 ausgehändigt wurde . 2008? Im Internet fand ich immerhin ein Update mit 36 Seiten aus 2014. Aber, hätten die Geheimdienste in der nun endlich begonnenen Digitalisierung eine innovativ-moderne Abteilung für ihre eigene Zukunftsfähigkeit, dann würde im Zeitalter dr Digitalisierung jedes Unternehmen jedes Jahr mindestens ein ganz neues Update bekommen. Und Geheimdienste insgesamt? Das ist eine schwierige Frage. Ich fühlte mich so ziemlich allein, bis mir im aktuellen SPIEGEL 12/2023 vom 18. März zwei Zeitzeugen auffielen :
„Jetzt leuchtet es mir ein: Wir brauchen den BND, um die BND-Mitarbeiter zu überprüfen. Ansonsten soll das Auswärtige Amt den SPIEGEL abonnieren, da steht alles drin.
Erich Breuer, Hagen im Bremischen (Nieders.)“
Auf Seite 120 dieses Heftes 12/2023 vom SPIEGEL dieses Zitat:
„… im Kanzleramt … Schmidt soll gesagt haben: ‚Den BND brauche ich nicht. Alles, was die aus Pullach mir sagen, habe ich bereits im SPIEGEL gelesen‘
Wolfgang Lüdke, Euskirchen (NRW)“.
Sowieso werden laufend Radikale aller Art als Mitarbeiter in deutschen Behörden entlarvt, so auch in Geheimdiensten. Was konnten allein diese schon an Schäden anrichten? Um die Breite des Problems zu erfassen, muss man allerdings ein paar Berichte zu Aktionen und Versäumnissen von ganz unterschiedlichen Behörden einbeziehen. Dazu gehören die erwartbaren Auswirkungen in naher und ferner Zukunft auf Gewalt, Elend, bürokratische Willkür, Gefährdung der Demokratie usw.
Überraschend genügt für eine Fülle von anschaulichen Anhaltspunkten allein schon das aktuelle Heft 12/2023 vom SPIEGEL. Von diesem Heft werden im Folgenden nur die Seitenzahlen genannt, mit einer bewusst kurzen Übersicht der Anhaltspunkte – die Details sind problemlos für alle im Heft verfügbar.
Dort wird (auf Seite 18) deutlich, wie in Deutschland die Zahl der Jagdschein-Inhaber seit 1982 pro Jahrzehnt zunächst um 5 bis 6 % wächst, zuletzt um 14%. Auf Seiten 22-25 steht: „Mehr als fünf Millionen Schußwaffen sind registriert“. Hinzu kommt eine Fülle von Versäumnissen der Behörden, etwa wenn zu bestimmten Gewalttaten Mahnungen nicht aufgegriffen werden (S.23). Auf Seite 50 beklagt die Tochter ihres im Iran kurz vor der Hinrichtung stehenden Vaters, dass deutsche Behörden zu wenig Druck machen: „Das zähe Taktieren der Politik zerrt an den Nerven der Familie“.
Auf Seite 76: DER SPIEGEL trug bei zur Identifizierung des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB bei dem Anschlag auf Navalny.
Mitten in Kriegshandlungen können einander widersprechende Geheimberichte die Konflikte verschärfen, und auch intern Chaos anrichten (Ein Beispiel auf Seite 70):
„Der militärische Zwischenfall über dem schwarzen Meer, bei dem ein russischer Kampfjet mit einer US-Drohne kollidierte, dürfte die Debatte über die amerikanische Unterstützung für die Ukraine weiter verschärfen“.
Hinzu kommt, dass verschiedene Geheimnisse unterschiedliche Loyalität zu Machthabern und Parteien haben und dies Daten weiter verfälscht.
Im Ausland gibt es brutale Schäden durch Geheimdienste und „Staatspolizei“. Das ist eine andere Kategorie von Schäden, als durch deutsche Geheimdienste. Die Frage zu „mehr Schäden als Nutzen?“ stellt sich dort nicht.
Gibt es Versäumnisse der Abwehr solcher Schäden? Was Geheimdienste aufdecken, ist geheim, was sie pragmatisch empfehlen, wäre interessant zu wissen, sei es jetzt – oder z. B. 30 Jahre in der Zukunft. Schier unendliche Herausforderungen sind breit bekannt. Auf Seite 71 berichtet SPIEGEL 12/2023 über „Folter von Minderjährigen“ im Iran, über „Selbsternannte Migrantenjäger“ in UK und über potenziell schädliche Veränderungen des Justizsystems in Israel – mit Auswirkungen weit über Geheimdienste hinaus.
Seite 38 zeigt verschärften Umgang mit Asylbewerbern, wie oft von Geheimdiensten, insbesondere Verfassungsschutz und Ausländerbehörden in gemeinsamer Sicht vorangetrieben. Dabei beruht die Überlastung der Behörden oft mit auf einer bürokratischen – anstatt viel öfters innovativ freundlichen – Einstellung gegenüber Migranten. Das bruht auf der bei Bürokratien zu oft typischen
„Chronischen Linderung von Symptomen“.
Seite 34 zeigt ein Beispiel für den Umgang mit einem bis zum Alter von 15 Jahren staatenlosen Kind; bis es sieben Jahre alt war wurde der Vater zweimal „abgeschoben“. Willkür von Geheimdiensten und staatlichen Behörden können zusätzlich spätere Willkür von Ämtern auslösen. So etwa in der Art und Weise, wie Kinder für übliche Lehrmaterialien einen Antrag beim Sozialamt stellen müssen; ein betroffenes Kind nannte die Diskriminierung „würdelos“ und „demütigend“.
So etwas kann verheerende Langzeitfolgen bis weit in die Zukuft hinein bewirken, das ist in letzter Zeit wissenschaftlich präzise erforscht worden .
Wie grundsätzlich sich auch große Staaten, mit und ohne Demokratie, der Verantwortung für Schäden der Geheimdienste entziehen, zeigt Seite 6: Sie entgehen dem Internationalen Strafgerichtshof. Werden Schäden irgendwann später vor Gericht kommen? Wohl eher selten. Seite 105 macht deutlich: Ähnlich schroff verhielt sich Deutschland ab 1884 als Kolonialmacht in Namibia. „Verantwortung“ für Verbrechen wie Völkermord wird von der aktuellen deutschen Regierung zwar „historisch“ (quasi moralisch) übernommen, nicht jedoch juristisch (um Entschädigungsansprüche abweisen zu können).
Ein Demokrat sollte von einem Geheimdienst erwarten dürfen, dass dieser bei Beratungen der eigenen Regierung mehr Nutzen als Schaden bewirkt. Er sollte besonders sachverständig sein und falsche Beratungen anderer Experten aufdecken. Die Seiten 84/85 zeigen, wie falsch es für die USA war, den Irakkrieg zu führen. Geheimdienste verstehen und bekämpfen einander gerne mit tödlicher Hingabe. Eine Gefahr ist, dass Regierungen eben diese Polarisierung übernehmen und ausweiten. Typischerweise war ein Ziel der USA, den „Sicherheitsapparat“ von Saddam zu zerschlagen. Interventionen gegen autoritäre Regime können jedoch ein anarchisches Chaos mit besonders hohen Schäden verursachen. Die Tragik solcher Beratung wurde aktuell präzisiert .
Berater in USA hätten wenigstens besser ahnen sollen: Zukunftsfähig sind nur Gesellshaften, die sich auf grundlegende Veränderungen einlassen. Dafür: Wieviele junge Mitarbeiter haben Geheimdienste inzwischen? Die irakische Journalistin Suha Oda fordert jetzt mehr Einfluss für die jüngere Generation:
„Viele Jahre lang glaubten wir an den Traum der „Demokratie“, den Amerika mit Panzern zu uns bringen wollte. Panzer, die alles zerstörten: Regierungssysteme, Verwaltungsinstitutionen, die irakische Armee, authentische gesellschaftliche Werte und den Traum einer ganzen Generation von einer Heimat, die alle Spektren beherbergt. Ich gehöre der neuen Generation an, die sich 2019 entschied, ihre Kritik zum Ausdruck zu bringen. Wir lehnen das aktuelle politische System ab. Es basiert darauf, den früheren Irak zu zerstören und legte für die Volksgruppen sektiererisch Quoten für die Regierungsführung fest. Diese zementieren die Spaltung des Irak. An dieser Situation wird sich nichts ändern, außer die junge Generation erhält die Möglichkeit, sich umfassend politisch zu beteiligen. Die entscheidende Frage bleibt jedoch: Wie kann dies geschehen, solange im Irak Waffen unkontrolliert verfügbar sind? …“
Geheimdienste (auch von außerhalb) und „Sicherheitskräfte“ richten in solchen Ländern ausufernde – und sich selbst verfestigende – Schäden an.
Vergleichsweise „milder“, jedenfalls vereinzelter, geschehen ähnliche Verbrechen in Demokratien. Terroristen und verrückte Attentäter richten dort in der Regel weit weniger Schäden an als Auto-Unfälle, Dürre-Perioden oder allwöchentliche Prügeleien von Fußballfans. Wirkliche Gewalttäter sollten demonstrativ gelangweilt weggesperrt, abgeurteilt und gesellschaftlich isoliert werden. Medien die über Gewalttaten hingebungsvoll aufputschend berichten, sollten in Deutschland systematisch bestraft werden, durch eine Gewaltsteuer, deren Höhe mit der Anzahl von Zuschauern steigt. Ob andere Staaten alsbald folgen, ist belanglos. Einem Täter wie Milosevic hätte man mit sehr geringem Aufwand drei bis fünf Opfer schlüssig nachweisen können und ihn dann sofort humorlos wegsperren sollen – am besten ähnlich, wie er es teils mit seinen Opfern getan hatte. Der Zweck eines Rechtsstaates ist nicht die Anhäufung von ausufernd „bezahlbarem Aufwand“ für Juristen und andere „Ordnungskräfte“.
Eine literarische Variante könnte helfen. Beispiel: Ich bin selbst strikt gegen die Todesstrafe – außer natürlich bei deren Befürwortern – zumindest theatralisch. Ich meine, wichtige Verhinderer von Klimaschutz sollten den später drastischen Folgen ausgesetzt werden. Solche Erzählungen, oder besser noch theatralische Szenen auf einer Bühne, können für Medien durchaus markant nutzbar werden, ein Beispiel:
https://www.edel-terroristen.de/bundesverflixtkreuz.html
Dort wo es nicht um einzelne Gefährdete jetzt, sondern um wirklich hohe Schäden in der Zukunft geht, fühlen Geheimdienste sich kaum auch nur ansatzweise zuständig.
Drei Kandidaten für intensive Beobachtungen durch Geheimdienste:
1. Banker (Seite 58) halten ihre Strategien geheim. Sie gehen Risiken ein, die zu Kurseinbrüchen führen können – und sie werden notfalls vom Staat gerettet. Die Staatsaufsicht ist nicht so pflichtbewusst und digitalisiert, dass de facto Kriminalität verhindert würde – und Geheimdieste routinegemäß Kurruption aufdecken würden. Auch werden Banker in hohen Positionen nicht zurückgetreten und weitgehend enteignet (von der Gesellschaft), sondern sie treten selber zurück – mit hohen Gewinnen, die ihnen verbleiben.
2. Erzieher, Beamte in Kultusministerien, Stadtplaner, Erforscher von Kindheit (Seiten 8-15 und 91): Sie halten nicht mal geheim, was die zu geringe Ausbildung bedeutet, was Kinder nicht können. Aber die Folgen werden nur angedeutet, immerhin kriminelle Karrieren, verminderte Arbeitsfähigkeit. Was fehlt ist, was diese Folgen insgesamt für die Gesellschaft bedeuten, kosten, psychisch anrichten. Ujnd umgekehrt, wass beim Wüten von Diktatoren eben lange vorher durch Versäumnisse bei deren Erziehung versäumt wurde.
3. Klimazerstörer (auf mehreren Seiten anklingend). Auf Seite 87 wird Volker Wissing erwähnt, wie er mit einem Mitarbeiter nicht mal über eine zukunftsorientierte Studie zu Tempolimits reden wollte. Zukunftsfähige Geheimdienste hätten Volker Wissing längst ausfindig gemacht, als den in Europa alles aufhaltenden geistigen Terroristen bezüglich Verbrennermotore. Der Streit mit den Grünen mag sich bald als irrelevant herausstellen, sobald klar wäre, dass dem Klima nur massive Einschränkungen der Transporte wie erforderlich helfen könnten, das gelänge durchaus im Rahmen einer zukunftsfähig kaum angedachten Umstrukturierung der Gesellschaft. Zukunftsfähig kann nicht gelingen, solange man den Wählern quantitativ gewohnte „Freiheiten“ des Transportes verspricht – anstatt qualitativ viel reizvollere Freiheiten in einer lebensfähigen Zukunft. Geheimdienste mit Zukunftsabteilung würden empfehlen: „in dubio pro securitas“, anstatt wie bisher:
„in irritatione pro institutione“.
Nun zählen solche Beispiele noch nicht mit zu den Arbeitsschwerpunkten von Geheimdiensten. Das geschieht wegen den komplexen Folgen, die bei Arbeiten von Zukunftsforschern anklingen können. Deshalb wird deren Finanzierung von Bürokraten und Machthabern – und eben auch bei den Warnungen von Geheimdiensten – instinktiv gering gehalten. Der Vorschlag von Volker Wissing zu Verbrennermotoren mag, maschinenbau-technisch in sich schlüssig, sachlich richtig gedacht sein – aber als politische Aktion kann er sich schon kurz nach erwartbaren Kipp-punkten von schweren Klimakrisen – als hemmungslos falsch herausstellen, so sicher niemals von ihm beabsichtigt.
Grundlegende, in sich schlüssige Veränderungen werden fast nur privat angedacht. So eine Erahnung von Digitalisierung mitsamt Nutzen und Schaden versuchte ich 2005 mit meiner Empfehlung zu einer „Transparenz der Verantwortung in Behörden“ auszulösen : Nicht der Bürger, sondern die Verantwortlichen in Behörden sollten tranparent sein. Das wäre nun entgegengesetzt zu allen Usancen der Behörden und Geheimdienste. Deshalb gilt es mögliche Zukünfte laufend aktuell zu vergleichen, nicht ideologisch, sondern sachlich zukunftsfähig. Zu Gegenüberstellungen wie von Sicherheitserwägungen und wirtschaftlichen Interessen (Seite 28) braucht die Regierung unter anderem gezielt recherchierte, teils gezielt geheimgehaltene (!) Daten.
Kenneth Boulding hat vorgeschlagen, die VN sollten einen Geheimdienst haben, der jedes Jahr alles was er herausfindet veröffentlicht. Die Krux ist, dass Nationen dagegen egomanisch vereint wären, bis eines Tages endlich aus den VN (Vereinte Nationen, teils Verbrecher Nationen) endlich VM (Vereinte Menschen) werden.
Dazu stellt uns Kenneth E. Boulding die Frage, wie man überhaupt die globale Gesellschaft sinnvoll planen kann . Er antwortet für uns, wer diese Welt tatsächlich umgestaltet, das seien zumeist nicht die Wissenschaftler, die (wie er selbst …) an ihren Gesellschaftsmodellen basteln, sondern die Schriftsteller, die Dichter: „I hate to tell you this, but it probably is not the model builders. It is the poets, damn them!”
Morde von einzelnen oder wenigen Menschen sind für Medien, wie seit tausenden von Jahren für Märchenerzähler, theatralisch interessant. Strukturell grundlegende Veränderungen hingegen, wie „Zusammenbruch und Wiederaufbau von Gesellschaften und Ökologien“ wirken zu abstrakt, allzu sehr geflissenschaftlich wissenschaftlich. Die Struktur – und teils das Image – von Geheimdiensten ist das Gegenteil von jenen VBM (Vertrauensbildende Maßnahmen), welche in Richtung einer elementaren Wende von Krieg zu Frieden, zu Völkerfreundschaften nach Art von Städtepartnerschaften weisen.
Da brauchen wir – insbesondere Geheimdienste – Erfahrungen und Zukunftsfähigkeit von Katastrophenforschern, Historikern, Zeitzeugen, System-Analytikern – und Poeten.
1 Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder: Wirtschaftsspionage – Risiko für Unternehmen“, (2008), 27 Seiten.
2 DER SPIEGEL 12/2023 vom 18. 3. 2023, Seite 121 – und weitere, im Text nur mit der Seitenzahl genannte Daten.
3 Philipp Sonntag: Erinnerungskultur - Die gesellschaftliche Rolle von Zeitzeugen. Frank & Timme – Verlag für wissenschaftliche Kultur. Ende März 2023; 196 Seiten.
4 Robert D. Kaplan: The Tragic Mind - Fear, Fate, and the Burden of Power. Yale University press, Jan 2023.
5 Suha Oda, Beitrag zu: „20 Jahre nach der US-Invasion – wie findet der Irak endlich aus der Krise?“
In: Tagesspiegel vom 20. März 2023, S. 32
6 Philipp Sonntag: „Transparenz der Verantwortung in Behörden“, Beitrag auf dem 22C3 Chaos Communication Congress“ in Berlin, (2005)
7 Kenneth Boulding: National Defense through Stable Peace, Laxenburg, 1983, S. 18