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Wir sind digital nervös

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Viele moderne Menschen fühlen sich total nervös. Kein Wunder, denn Bruttosozialprodukt, Lebensstandard, Digitalisierung – alles wuchert. Jedoch nur weniges scheint bewusst steuerbar zu sein. Viele staatliche Auskünfte zur Sicherheit wirken unsicher, zur Freiheit frei erfunden. Die Gratwanderung hat zu tun mit: Unsere Gesellschaften verändern sich tausendmal schneller als unsere Gene. Unsere Computertechniken ändern sich tausendmal schneller als unsere Politiker. Die Vorschriften mitsamt Updates unserer Behörden und Konzerne wuchern tausendmal üppiger, als unsere Nerven.

Mit Instinkt

Mit wachsender Verzweiflung befragen da Experten ihren Instinkt. Zugleich dürfen sie in ihrer täglichen Arbeit nicht unsicher wirken – sonst fallen sie womöglich als „ein Sicherheitsrisiko“ auf. Das gilt vor allem in den mächtigen IT-Firmen. Dort kann unsere tastende, zögerliche Demokratie als ein lästiger Störfaktor empfunden werden.

Zugleich gibt es durchaus unabhängige Experten, zum Beispiel in Non-Profit-Organisationen wie in der Mozilla Foundation mit ihren „Freie Software Projekten“. Ihr Geschäftsführer Mark Surmann betonte Mai 2019 auf der Internetkonferenz re:publica, dass KI (Künstliche Intelligenz) weder eine existenzielle Bedrohung sei, noch eine Erlösung von den Spannungen. Er fordert: KI solle ethisch, robust und rechtmäßig sein. Er meint: über Ethik wird geredet, robust wäre übertrieben und rechtmäßig wird als Thema geradezu gemieden.

Per Instinkt habe ich mir jetzt für 99.- € den Bausatz einer Drohne besorgt, sie etwas mühsam zusammengebastelt – und auf einer Wiese Purzelbäume schlagen lassen. Jedoch wurde ich nur unsicherer als vorher: Wie kann so ein Ding den Verkehr eines Flughafens gefährden? Kann in einem Krieg mitsamt Cyber-War überhaupt noch irgendetwas funktionieren? Können Datenschützer noch einigermaßen gut schlafen? Im Behörden Spiegel steht, sie werden in den Aufbau von Überwachungsstrukturen einbezogen. Natürlich von jenen, denen sie ihren Job verdanken. Aber trotzdem, unsere Demokratie ermöglicht eine gewisse Transparenz, mitsamt einer Fülle von Fach-Artikeln. Besonders im „Behörden Spiegel“, ich meine die ehrlichen Bemühungen werden deutlich, allerdings woher all die geforderten IT-Fachleute kommen – und woanders nicht fehlen – sollen, bleibt vorerst offen.

Mit Hoffnung

Die Hoffnung durch eine kluge Digitalisierung sind bessere Produkte und Dienstleistungen, höhere Sicherheit und bessere Kontrolle. In der Produktion kennt das Produkt sich selbst, versteht die eigenen Reaktionen oft besser, als der Arbeiter, als der Ingenieur. Da gibt es einen für Menschen unerreichbaren Zusammenklang von Produkt und Produktionseinrichtung. Es gibt Störungen, die das Verhalten von Mensch und Produkt stärker, vor allem anders irritieren und belasten, als je zuvor. Denn indem Menschen und Produkte systematischer erfasst werden, steigen bei beiden Steuerbarkeit und Störbarkeit. Sandro Gaycken, Direktor des Digital Society Institute an der ESMT (European School of Management and Technology in Berlin) notiert: „…selbst bei besten Bemühungen ist davon auszugehen, dass pro normalem IT-System einige zigtausend Schwachstellen bestehen bleiben. Und die bösen Hacker werden selbstredend immer einige finden und nutzen können“. Zugleich erläutert er immer wieder an Hand praktischer Beispiele, dass öffentlich diskutierte Gefahren genau betrachtet politisch „im Griff“ sind, dass sie jedenfalls keine besonders aufwendigen Maßnahmen erfordern.

Die Politik wird den risiko-geplagten technischen Fortschritt nicht aufhalten, dabei in vielen Fällen halbwegs überschaubar steuern können. Sie muss versuchen, wenigstens mit Augenmaß bessere Regelwerke finden und durchsetzen. Die Komplexität der Strukturen wächst. Das Beispiel der Kartell-Aufsicht zeigt: Es gibt derzeit keine Patentlösungen, sondern nur Wachsamkeit bei laufend neuen Herausforderungen.

Das galt ähnlich bereits für die Demokratie im Sinne von Montesquieu, mit Bemühungen um möglichst ausgewogene und zielführende Legislative, Exekutive und Judikative als Input, jedoch immer wieder mit Überraschungen beim Output. Es geht um aufgeklärtes politisches und nun außerdem noch fachkundiges Bewusstsein. Die Gefahren brauchen praktische, flexibel erweiterbare Regelungen. Das übliche digitale Update in rascher Folge ist technisch und gesellschaftlich eine Herausforderung, nervlich eine Zumutung.

Mit Kontrolle

Im Buch von Robert Jungk: „Der Atomstaat – Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit“ ging es 1977 – ähnlich wie heute beim Digitalstaat – um die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Damals hatte die „Terror- und Atomfurcht“ zu einer Ausweitung der Kontrollsysteme inklusive der Überwachung von Menschen geführt. So war der kritische Atomtechniker Klaus Traube überwacht und bespitzelt worden, ohne konkreten oder gar juristisch erhärteten Verdacht.

Sind ausufernde Geheimdienste eine Art Exzess von Verwaltung, sozusagen die moderne Krankheit einer nervösen Demokratie, einer Vorstufe von Zivilisation? Da wird gewarnt: „Die Chinesen haben uns schon überholt …“, und prompt bedrängen unterschiedliche Experten die Politik, mit widersprüchlichen Forderungen: KI muss unbedingt gefördert werden, um effizient zu werden wie in China – und unbedingt eingeschränkt werden, siehe allein schon die Auswüchse in China.

Facebook entwickelt derzeit Verfahren zur Gesichtserkennung, zu optischen Vergleichen, zur Identifizierung, und womöglich bald zur (angeblichen) Charakter-Erkennung. Da bittet Microsoft um staatliche Reglementierung: Es geht um fundamentale Menschenrechte, dabei ist die Rechtsunsicherheit groß und für große Firmen lästig.

Die Identifizierung von Personen an Hand ihrer Gesichter durch Fortschritte der KI macht den früher gewohnten und beachteten Datenschutz technisch unmöglich. Das bewirkt eine für Firmen schwer einschätzbare Situation. Die damit verbundene Gefährdung bis hin zu Aushöhlung der Menschenrechte schafft eine ungewohnte Rechtsunsicherheit. Daher hat sich Microsoft an die amerikanische Regierung gewandt und Reglementierung gefordert (SZ 18. Juli 2018, Seite 9). Die bisherige Erfahrung zeigte jedoch bereits, dass eine staatliche Einigung viel länger dauert, als der technische Fortschritt braucht, um sie oft schon bei Verkündung als überholt erscheinen zu lassen. Qualitätsprüfungen sind rasch veraltet. Ähnlich werden Entwicklungen von Kampfflugzeugen teurer und dauern länger als geplant, weil unbedingt der neueste technische Fortschritt eingebaut werden soll.

Zu rasch fortschreitenden Techniken passen akribische Überwachungs-Reflexe bürokratischer Verwaltungen besonders schlecht! Gerade bei „noch“ mangelhaften Regelungen wollen Beamte durch akribischen Eifer „auf der sicheren Seite“ sein. Schon ohne viel Technik konnte sich ein deutscher Staat durch besessene Kontrolle, nämlich die DDR durch ihre „Stasi“ selbst vernichten. Die in der DDR akzeptierten Futurologen haben es nicht erahnt – oder nicht gesagt. Auch waren nach der Wende viele Eskapaden des Kapitalismus (siehe Treuhand usw.) geradezu kafkaesk weitaus krasser, als in den Jahren davor all die offiziellen Warnungen des Establishments der DDR.

Digitaltechniken führen zu einer perfektionistischen Verknüpfung und Gestaltung bei Behörden, das zeigen aktuelle Ausgaben vom „Behörden Spiegel“. Dabei geht es nicht um eine ganz neue, unheimliche Gefahr, wie zum Beispiel Radioaktivität. Es geht in letzter Konsequenz um eine Neu-Ordnung der Gesellschaft durch eine Digitaltechnik, die auf viele Bereiche des Lebens Einfluss gewinnt. Es handelt sich um eine gesellschaftlich, teils sogar technisch eine kaum kontrollierbare Vielfalt von Gefahren. Es gibt keinen klaren, plötzlichen Aufschrei der Alarmglocken, sondern mehr so ein nervöses Dauer-Krächzen. So gab es in 2018 von Januar bis August über hundert Drohnen, die über deutschen Flughäfen unterwegs waren – trotz Verbot.

Wir, mitsamt unseren Geheimdiensten, sind gewarnt: Längst haben Terroristen erweiterte technische Optionen. Die Vernetzung der zuständigen Überwachungsbehörden scheint überraschend schwierig zu sein. Neben aller Technik gehen auch gesellschaftliche Ansichten und Erwartungen in die Überwachungen ein. Das wiederum durch Behörden zu erfassen, gelingt womöglich weiterhin nur bei krassem Versagen von Behörden. Der politische Reflex ist oft, ausgerechnet bei Versagern zu investieren. Das betrifft ein bei Vernetzung systemtechnisch nicht leicht zu beurteilendes, schwer „auszurechnendes“ Problem.

Bundesverfassungslos

Datenschutz kann mit den wachsenden Herausforderungen nicht Schritt halten. Vor Jahrzehnten gab es Überlegungen wie: Es sollen weniger Daten erhoben werden, denn Faschisten könnten sie bei kriminellen Aktionen missbrauchen. Und es hieß: „Wer nichts zu verbergen hat, wird Überwachung nicht fürchten“.

Allerdings wird im „Grundrechtereport“, (einer Art alternativer Verfassungsbericht: siehe „pro Zukunft“ 2017, S. 4 und www.grundrechte-report.de/), mehrfach betont:

„Die wirklichen Gefährdungen unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung und damit der Grundrechte und des Rechtsstaates gehen vielmehr im Wesentlichen von staatlichen Institutionen aus …“.

Das geschieht teils sogar mit ehrlicher „demokratischer Überzeugung“ in Behörden, die meinen, gegen angebliche verfassungswidrige oder als extremistisch bezeichnete Bestrebungen vorgehen zu müssen; stattdessen wären gemäß § 139 GG (Entnazifizierungsvorschriften) eigentlich Nazis und Rechtspopulisten strikt zu beobachten und einzuschränken, um die Demokratie zu schützen. Genau das wird sogar so weit wie „möglich“ vermieden(Tagesspiegel 17. 5. 2019, S. 6): Das Bundesverfassungsgericht meinte bei der Überprüfung der NPD, es könne die Volksverhetzung „nicht mit hinreichender Gewissheit“ erkennen, obwohl bekannt ist: „Die NPD testet gerne die Schmerzgrenzen der Demokraten aus“ und ihr gelingt, eindeutige Provokationen ungestraft öffentlich zu äußern. Die Folge, in einem Gedicht notiert, das so beginnt:

Bundesverfassungslos
ziehen wir Gewaltbereite groß.

style="margin-left: 30px; Ich selbst habe als politischer Exhibitionist nichts zu verbergen – außer vor einem argwöhnischen, potenziell willkürlichen bis hin zu gewalttätigen Staat. Die inzwischen vielleicht größte Gefahr für Demokratie und generell Freiheit sind jene Innenminister, welche mit dem Versprechen von mehr Sicherheit, die Überwachung – und damit womöglich deren Missbrauch – immer weiter ausweiten. Flüchtlinge werden durch immer strikter behandelt. Ein europäischer Marshall-Plan für mehr Chancen, Jobs, Selbstständigkeit in Afrika fällt ihnen höchstens mal kurz rein verbal ein.

Was heißt hierzu, mehr Steuerbarkeit kann tendenziell mehr Störbarkeit mit sich bringen? Eine Störung können zum Beispiel wuchernde oder einseitig bewertende Verwaltungen sein. Die NSU Affäre zeigt, wie man geradezu systematisch – bei einem argwöhnisch-übervorsichtig in Sackgassen verstrickten Netz von Behörden – vor Missbrauch nicht sicher sein kann.

„An sich weiß jeder“, dass eine systematisch allzu argwöhnische Behandlung der eigenen Bevölkerung tückisch sein kann. Das Phänomen gibt es nicht nur im Bereich der Technik. So musste ein Publizist wegen seiner Sex-Zeitschrift in ein USA-Gefängnis, aber noch bevor er entlassen wurde, konnte er Sex-Zeitschriften gleicher Art problemlos abonnieren und sich ins Gefängnis liefern lassen. Ein schönes Beispiel für eine, von der Justiz nicht oder zu spät bemerkte, wachsende Freiheit.

Umgang mit Künstlichen Demokraten

„Bots“ Im Internet gibt es „Bots“ mit programmierten, sich selbst per Vorgaben verändernden „künstlichen Meinungen. Sowas macht immerhin auch „irgendwie“ Spaß. Sie können aber auch politischen Einfluss ausüben, so auch womöglich russische Bots auf die Wahl des Präsidenten der USA, was als Übergriff gewertet wird. Umgekehrt könnte man dieses Phänomen positiv einer technisch modernen, globalen Demokratisierung zurechnen. Schließlich kann man Aktionen von Geheimdiensten in Osteuropa als Übergriffe werten. Beurteilt wird derzeit noch je nachdem, wem es gerade nützt.

Die Verwendungs-Möglichkeiten sind schier uferlos. Die Hilflosigkeit der staatlichen Reglementierer zeigt sich bei einer Gesetzesvorlage (bill) in USA, welche verlangt, dass für zwei spezielle Themen (über die man im Wahlkampf und sogar danach so schön dramatisch streiten kann) Bots als solche (nämlich als nicht unmittelbar von Menschen stammende, sondern sich selbst präzisierende „Täter“) identifiziert werden sollen. Die beiden Themen sind die Werbebranche und der Einfluss auf demokratische Wahlen. (NYTI 18 Juli 2018, S.17 ).

Laufend verändert sich die Gesellschaft in vielen Bereichen schneller, als der Versuch einer Reglementierung. Eine Form durchgreifender Reglementierung wäre eine gezielte Veränderung der Gene – könnte sie gelingen, so würden „wir uns selbst“ wohl ziemlich unheimlich. Da mag sein, dass ein zukünftiges „Ich“ nicht mehr weiß, ob, wieweit, unter welchen Aspekten es eine Art „noch spontaner“ – oder „schon zivilisierterer“ – Mensch wäre. So ein Hybridwesen „mag“ vielleicht in vorbeugender Weise sich selbst bekämpfen?

Die Antwort der Behörden auf existenzielle Unklarheiten kann die Form jener Schlitzohrphrenie annehmen, die jemand wie ich schon längst auf Wunsch mit KI auch in Verwaltungs-Roboter einbauen kann. Dann kann es einen Roboter geben, der sich mit KI fragt, ob er nun eine Option nutzen soll, um etwas besser steuerbar zu machen – sprich sich wie „ein virtueller, sich selbst laufend gemäß einem künstlichen Vorbild präzisierender Demokrat“ zu verhalten.

Da liegt nahe, dass Schüler im Gymnasium das Verhalten von solcher KI, (genauer: von modellhaft simulierten, per Qualitätssicherung hybrid-vorbildlichen „Demokraten“) automatisieren und auf praktische Probleme anwenden. Da hat dann kaum ein Lehrer noch die Chance, „ganz einfach“ Schulaufsätze nachzuvollziehen, geschweige denn aus zugehörigen Zukunftsvisionen heraus zu beurteilen, wohin es gerade geht. Können die Schüler ihm erklären, auf welche Weise ein allzu strikt automatisierter Geheimdienst womöglich einen systemisch-strukturell ähnlichen Fehler macht, wie die allzu strikte Stasi in der DDR?

Fazit

Wir dürfen, ja sollen uns als aktive Demokraten vorsichtig anfreunden mit unserer Nervosität, mit der Vagheit unserer Ängste, mit dem Spiel unserer Hoffnungen, mit einer Optimierung professioneller Toleranz. Das mag gesellschaftlich sensibel, politisch verantwortlich klingen. Systemisch bleibt es eine zwar sensibel gesteuerte, jedoch leicht mal gestörte Gratwanderung.

Da müsste auch Montesquieu nochmal ganz neu über seinen Vorschlag zur Gewaltenteilung nachdenken. Zur Freiheit hat er das (vorausschauend?) getan, in seinen Lettres persanes schreibt er: „Ein Mann, der seine Frau allein besitzen will, sollte als öffentlicher Spielverderber betrachtet werden.“ Eva Illouz, eine moderne Frau, zeigt in ihrem Buch „Warum Liebe endet – Eine Soziologie negativer Beziehungen“, wie sich mit modernen Kommunikationstechniken ganz neue emotionale Kompetenzen und Beziehungsdynamiken herausbilden können. Spielverderber sind wir selbst und viele in unserer Umgebung, für die Freiheit sind wir Täter und Opfer, für uns selbst sind wir als „ewige Studenten“ des menschlichen Lebens ausgesprochen digital nervös.

Am schwierigsten und gefährlichsten sind moderne Steuerungen im militärischen Bereich. Gewohnte Aktionen werden auch dort ungewohnt. Mit Oberst i. G. Heiko Mühlmann, Referatsleiter BMVg CIT ahnen wir (AFCEA 2019, S. 8):

„… wird es zukünftig sehr darauf ankommen, zwischen Automatisierung und Autonomie zu unterscheiden.“

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