Transformation und Ambivalenz. Steht die Welt vor dem Kollaps?
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Werner Mittelstaedt: „Transformation und Ambivalenz. Steht die Welt vor dem Kollaps? Kurskorrektur oder Klimakatastrophe. Mit einem Vorwort von Ernst Ulrich von Weizsäcker“; Verlag Peter Lang Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa und Wien 2023, ISBN 978-3-631-88978-7; € 29.95, 180 Seiten.
Rezension von Philipp Sonntag
Das neue Buch des Zukunftsforschers Werner Mittelstaedt bringt Ordnung ins Chaos der planetarisch vielfältigen Bedrohungen. Das ist ein Balanceakt: Es weckt zwar Hoffnungen, zugleich aber zeigt es deutlich, dass nur eine gezielte Kombination von „tiefgreifenden Transformationen“ wirkungsvoll und nachhaltig helfen kann.
Dafür gibt es „Ambivalenzen der Umsetzung“, die einen ebenso sensiblen wie flexiblen Umgang mit ganz unterschiedlichen Gestaltungs-Optionen erfordern. Dazu nennt Mittelstaedt als Fazit am Ende des Buches explizit 95 Gegensatzpaare. Damit zeigt er einerseits, wie sich der Mensch bisher verhielt – und pointiert andererseits, was der Übergang in eine neue, gerechte und nachhaltig agierende Weltgesellschaft erfordern würde. Diese Paare veranschaulichen das Ausmaß der Herausforderung; einige Beispiele:
„Mensch gegen Natur – Mensch als Teil der Natur (Beispiel Nr. 13)
Weit verbreitete Scheinindividualität durch Fremdbestimmung im Berufs- und Privatleben – Rückgang der Scheinindividualität durch Eigeninitiative, reale Mitbestimmung und Ablehnung von Fremdbestimmung (21)
Weit verbreitetes Konkurrenzdenken – Wahrnehmung von Eigeninteressen im Einklang mit den Gesamtinteressen (19)
Millionäre, Milliardäre – Weniger Millionäre, keine Milliardäre durch ein gerechtes Steuersystem (32)
Wegwerfmentalität – Reparaturmentalität (68)
Mensch gegen Tier – Mensch und Tier (14)“
Allein schon letzteres wäre tiefgreifend. Aber wie? Der Mensch müsste wohl erst mal lernen, sich vor den (vor fast allen) Tieren zu schämen. Als wer oder was? Dazu sollte er ernsthaft versuchen, sich selbst existenziell zu finden. Das mag zunächst als eine Provokation erscheinen, kann sich jedoch als eine höchst reizvolle Präzisierung der eigenen Identität, Rolle und Verantwortung entwickeln – für den menschlichen Umgang mit jedem der Gegensatzpaare.
Zugleich kennt und nennt Mittelstaedt bestimmte Gefahren detailliert, die je für sich allein eine breite Vernichtung bewirken können, so die laufende Atomrüstung, so insbesondere die sich durch cyber-war verändernde Eskalationsgefahr. Ebenso geht er bei bestimmten Optionen ins Detail, so für die Ersetzung von „zentralisierter, monopolisierter Stromerzeugung“ durch je nach Umständen vielfältig lokal zielführende, regenerative Maßnahmen. Dabei geht es immer auch um eine öffentlich akzeptable Infrastruktur.
Die Schwerpunkte des Ansatzes von Mittelstaedt bestätigt Ernst Ulrich von Weizsäcker in seinem Vorwort zum Buch, indem er dort ausdrücklich wesentliche Trends betont: „Das Wiedererwachen des militärischen Denkens erweist sich als einer von acht zukunftsgefährdenden Megatrends. … Zu diesen Megatrends gehören natürlich auch der Klimawandel, die massive Ausrottung von Tieren und Pflanzen, der ungebremste Verbrauch von Ressourcen, die weltweite Bodendegradation, sowie das immer noch anhaltende Bevölkerungswachstum! Wir müssen – als Menschheit – mit einem bescheideneren Wohlstand ( Human Development Index ) leben lernen …“
Die Vereinten Nationen konnten diese Megatrends leider nicht umkehren. Obwohl, ein Bewusstsein für die Bedrohungen ist dort ebenso vorhanden, wie bei weltweit zahlreichen kreativen Menschen. Da gibt es etliche nachahmenswerte Versuche, eine lebensfreundliche Zukunft zu entwickeln und zu verwirklichen.
Das Buch verdeutlicht: Für die zahlreichen Herausforderungen braucht der Mensch Sachkenntnisse und Durchhaltevermögen, ebenso wie Zuversicht. Mittelstaedt hat bereits 2017 in seinem Roman „Tipping Point“ versucht, das Ausmaß der Gefahren und der notwendigen Aktivitäten zur Rettung dramatisch zu beleuchten. Indem ich in diesem Roman blättere, ahne ich: Seine Romanfiguren durften bereits einen Rohentwurf des aktuellen Buches als eine Art Leitfaden für ihre Aktionen verwenden.